Ludwig Tragseiler

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little Ludwig, Skulptur, Seife, 40x5x8cm, 2022                                      Seifenbläser, Ludwig Tragseiler, 63x12x16cm, 1900


Der Multi-Media-Künstler Wolfgang Tragseiler erforscht mit seinem Projekt “Tragseiler Ludwig” die Bedeutung von Genealogie, Identität und Mythenbildung im künstlerischen Kontext rund um das Klischee des verarmten Künstlers anhand der Biografie und des Werk seines eigenen Urgroßvaters Ludwig Tragseiler (1879-1955). Er stellt dabei Fragen an den Begriff der Originalität und der Urheberschaft sowie die Möglichkeiten, den Zusammenhang von Herkunft und Künstleridentität zeitgemäß zu betrachten und für die Gegenwart zu öffnen und zu transformieren.
Ludwig Tragseiler, geboren in Tirol, war Holzbildhauer. Er kam aus relativ gut situiertem Haus, hatte aber über all die Jahre und Kriegswirren sein gesamtes Vermögen (wahrscheinlich waren es sechs Zinshäuser) verloren. Die zwei letzten Objekte, die sich noch heute im Familienbesitz befinden, sind die ca. 60 cm große Holzskulptur eines Seifenbläsers und ein Porträtfoto von Ludwig Tragseiler.
In seiner Recherche sammelt Wolfgang Tragseiler mit den Methoden der Oral History aus Erzählungen von Hinterbliebenen biografische Fragmente. Außerdem zieht er Dokumente in österreichischen Archiven heran, um daraus ein Gesamtbild zu Leben und Werk von Ludwig Tragseiler zu generieren, das Aufschluss über die künstlerische Identität des Urgroßvaters aber auch den ikonologischen, sozialen und zeitgeschichtlichen Hintergrund gibt.

Spuren führen zu nahen Verwandten, wie beispielsweise zur Großmutter (Stieftochter von Ludwig Tragseiler), aber auch in das Archiv des Ferdinandeums in Innsbruck. Ludwig Tragseiler soll verschiedene Altäre geschnitzt, eine Professur ausgeschlagen und seine Werke vor dem Hintergrund eines tiefen Glaubens geschaffen haben.

Neben den noch ungeklärten Hinweisen über einige Werke gibt aber auch der Lebenswandel von Ludwig Tragseiler Rätsel auf, wie der Verlust der Zinshäuser und die Rede von “Vielweiberei”. Sein Bild blieb dabei von der Wertschätzung der künstlerischen Tradition - der Sohn war Vergolder - aber auch Verbitterung über die Verarmung geprägt. Die verschiedenen Überlieferungen weisen einerseits auf ein Schaffen innerhalb religiöser volkstümlicher Kunst hin, bedienen aber auch gängige Klischees vom verarmten Künstler und gleichzeitig polygamen Lebemann, wie sie bis in die Gegenwart in der gesellschaftlichen Vorstellung das Bild vom freischaffenden Künstler bestimmen und bis heute wirksam geblieben sind. Die in der Biografie angelegte Mythenbildung dient Wolfgang Tragseiler als Basis der künstlerischen Inszenierung, die mit durchaus typischen und dabei widersprüchlichen Aspekten spielt. Im Zentrum steht die vererbte Skultpur des Seifenbläsers. Die getreue Kopie aus Seife von Wolfgang Tragseiler samt Signatur formt die Idee von Genealogie und Herkunft zur überspitzten Geste. Die abgeschlagenen Finger der Holzskulptur werden durch Seifen-Prothesen ersetzt, die übrig gebliebenen Holzfragmente in das Imitat aus Seife eingearbeitet. Tradierte Konzepte von Original und Identität erscheinen auf diese Weise in ein ikonografisches Spiel mit der Figur verwickelt, die sich Wolfgang Tragseiler aneignet, indem er seine eigene künstlerische Identität in Schwebe hält zwischen Appropriation und Interpretation des urgroßväterlichen Erbes. Es stellt sich die Frage: Wie verhalten sich Kopie und Original zueinander, nachdem beide jeweils einen Teil vom anderen integriert?
Wolfgang Tragseiler antwortet auf die historische Konstruktion des Künstlerbildes mit einer mehrteiligen künstlerischen Arbeit. Darin werden Medien als wirksame Mittel der Mythenbildung dekonstruiert und gleichzeitig als Kunstwerk neu inszeniert, das selbst den Mythos spielerisch fortsetzt, indem es dessen Herstellung performativ untersucht. Die Vervielfachung der Seifenfigur durch zahlreiche zusätzliche Abformungen der Skulptur aus Seife in farbiger Pop-Ästhetik erweitern dabei die Frage des Gestalterischen und der Autor*innenschaft, wenn die zum Waschen gedachten “Klone” an andere Künstler*innen verliehen oder in Waschräumen aufgestellt werden. Welche Hände gestalten hier wie an der Form mit, wenn sie benutzt wird und partizipieren damit an der kreativen Freiheit, die sich Wolfgang Tragseiler erlaubt, wenn er den ideellen Wert des Geerbten durch die eigene konzeptuelle Erweiterung freigibt?

Die symbolisch eingesetzte Materialität und ihre Materialsprache stellen nicht nur den individuellen künstlerischen Ausdruck zur Disposition. Zwischen Entwertung, Bewertung und Aufwertung des Erbstücks wird die Frage der Aura von hinten aufgerollt, wenn sich diese an einer quasi “arbeitsteiligen” Kette entfaltet und auf etwas zurückwirkt, das dabei gewissermaßen zerstört und aufgeladen wird. Bleibt Ludwig Tragseiler am Ende der Urheber oder wird seine Urheberschaft durch das Mitwirken multipler Autor*nnen aufgehoben?
Das Potenzial der Veränderung, bedingt durch Prozesse des Verfalls und gestalterischer Eingriffe, ist mehrschichtig angelegt: Einerseits in der Betrachtung und Verarbeitung eines traditionellen Wertes - dem Erbe - andererseits Heruntergebrochen auf ein Stück Seifes zum Waschen, das die abstrakten Überlegungen zu dieser Thematik durch den zeitgenössischen Zugang im Alltäglich-Profanen an eine komplexere Sichtweise heranführt als es die üblichen vorgegebenen Bewertungsmechanismen und Konventionen vorgeben bzw. auf etwas noch Unbestimmtes hinweist.
Sowohl das Kunstwerk des Urgroßvaters als auch andere Dokumente und Informationen werden von Wolfgang Tragseiler auf diese Weise zu einer Inszenierung verarbeitet, die als Hommage gelesen werden kann, dabei aber das eigene künstlerische Selbst in einer offen gehaltenen Position gegenüber der Rolle von Kunst und Künstler*innen im erweiterten gesellschaftspolitischen Kontext der Gegenwart verortet.


Text: Synne Genzmer